Sandro Gozi ist ein italienischer Politiker, ehemaliger Staatssekretär für europäische Angelegenheiten in der Regierung Renzi und in der Regierung Gentiloni. In Frankreich war er als Berater für europäische Angelegenheiten in der Regierung Philippe II tätig. Seit dem 1. Februar 2020 ist er Mitglied der Fraktion "Renew Europe" im Europäischen Parlament, gewählt im französischen Wahlkreis innerhalb der Liste "Renaissance", die vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron und "En Marche" unterstützt wird. Er ist Präsident der Vereinigung EU-Indien mit Sitz in Brüssel und seit dem 5. Mai 2021 Generalsekretär der Europäischen Demokratischen Partei. Er ist Mitglied im Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (IMCO), im Ausschuss für konstitutionelle Fragen (AFCO) und in der Delegation für die Beziehungen zu den Maschrik-Ländern (DMAS). Ausserdem ist er stellvertretendes Mitglied des Ausschusses für regionale Entwicklung (REGI), des Sonderausschusses für die Einmischung des Auslands in alle demokratischen Prozesse in der Europäischen Union, einschliesslich Desinformation, und die Stärkung der Integrität, Transparenz und Rechenschaftspflicht im Europäischen Parlament (ING2) sowie der Delegation für die Beziehungen zu Indien (D-IN). Er hat 10 Jahre lang in der EU-Kommission im Kabinett von Präsident Prodi gearbeitet u.a. im Rahmen der Problematiken des Sports sowie als Berater von Präsident Barroso.
 
Wir sind seit langem der Meinung, dass die Frage der Fussball-Governance in Italien und Europa in den Mittelpunkt der politischen Aufmerksamkeit gerückt werden sollte. Deshalb haben wir mit dem ehrenwerten Mitglied des Europäischen Parlaments, Sandro Gozi, gesprochen. Er ist nicht nur ein Juventus-Fan, sondern auch ein wichtiger Vertreter der EU-Politik, mit besonderem Augenmerk auf die Verbraucherrechte.
 
Guten Abend, Herr Gozi, und vielen Dank, dass Sie sich zu diesem Gespräch mit unserer Redaktion bereit erklärt haben. Wir haben ein allgemeines Schweigen festgestellt seitens der Vertreter für Bürgerrechtsschutz bezüglich der unglaublichen Gerichtsverfahren, die aktuell Juventus betreffen. Die Bürgerrechte des Angeklagten wurden mehrfach verletzt, der von der italienischen Sportjustiz organisierte Prozess war mediengesteuert und die Grundsätze eines fairen Verfahrens wurden mit Füssen getreten. Dennoch gibt es keine offiziellen Stellungnahmen von Politikern. Wie erklären Sie sich das?
 
Ja, der Prozess fand in erster Linie in den Medien statt, wo alle möglichen Anschuldigungen verbreitet wurden, ohne dass die Fakten und Prozessunterlagen vollständig bekannt waren. Leider passiert das nicht nur bei Sportprozessen. Sehr oft wird man in Italien von „Medien- und Volksgerichten“ angeklagt und verurteilt, und anschliessend womöglich in aller Stille und unter allgemeinem Desinteresse freigesprochen, mit höchstens einem kleinen Eintrag auf den Mittelseiten der Zeitungen. Der Fall Juve ist zweifellos ein sehr mediengetriebenes Beispiel für eine Pathologie, die im Falle der Sportjustiz, wo alles viel unsicherer, willkürlicher und undurchsichtiger erscheint, vielleicht noch gravierender ist. Einerseits bin ich der Meinung, dass sich die Politik nicht in offene Einzelverfahren einmischen sollte. Ich denke, das ist der Hauptgrund für dieses Schweigen. Andererseits hat die Politik die Pflicht, einzugreifen, wenn allgemeine Probleme im System erkannt werden. Und in diesem Fall ist das Eingreifen nicht eine Option, sondern eine klare öffentliche Verantwortung. Ich glaube daher, dass eine Reform absolut notwendig ist, denn der Fall Juve hat allen gezeigt, dass das derzeitige System nicht in der Lage ist, Rechtssicherheit zu gewährleisten, es leidet an mangelnder Transparenz, es entscheidet nicht in einem angemessenen zeitlichen Rahmen und schafft zu viele Missverständnisse und Zweifel bei Sportlern, Vereinen und Fans. Wenn man dann noch bedenkt, dass Fussball ein grosses soziales Massenphänomen, aber auch eine wichtige wirtschaftliche Aktivität ist, wird die absolute Unzulänglichkeit des derzeitigen Systems recht klar. Die Sportgerichtsbarkeit muss auch unabhängig, fair und nachvollziehbar sein: Das derzeitige System ist in jedem dieser Aspekte schwach. Und wir können es uns nicht länger leisten.
 
Sie haben eine lange pro-europäische Geschichte. Wie sehen Sie das UEFA-Monopol im Fussball? Haben Sie die Stellungnahme des Ersten Generalanwalts Maciej Szpunar gelesen? Was denken Sie darüber?
 
Ich bin überzeugt, dass das derzeitige UEFA-Monopol nicht mit dem europäischen Recht vereinbar ist. Die UEFA hat eine marktbeherrschende Stellung, die sie missbraucht und damit gegen die Grundsätze des Wettbewerbs und des freien Marktes verstösst. Und es sind die Missbräuche und nicht die beherrschende Stellung, auf die wir uns konzentrieren müssen. Die UEFA muss die Grundsätze und Bedingungen klarstellen, unter denen sie den Vereinen die Freiheit gibt, neue Initiativen und Wettbewerbe zu fördern. Diese Kriterien und Bedingungen müssen klar und transparent sein und sich an den zu erreichenden Zielen und den zu gewährleistenden Grundsätzen orientieren. Meiner Meinung nach müssen wir uns vor Augen halten, dass der Fussball sowohl eine soziale als auch eine wirtschaftliche Aktivität ist. Aus der Perspektive des europäischen Sportmodells muss die UEFA besser klären, wie die derzeitige Struktur das Erreichen der Ziele der europäischen Verträge garantiert: Inklusion, Leistung, Unterstützung für kleine Vereine und den nicht-professionellen Fussball. Wir müssen sicherstellen, dass diese Prinzipien eingehalten werden, ohne ein einziges, absolutes Modell aufzuzwingen, wie es jetzt der Fall ist. Und warum muss auf dem europäischen Binnenmarkt alles streng national sein? Denn wenn morgen die belgischen, niederländischen und luxemburgischen Verbände eine BeNeLux-Meisterschaft oder die baltischen Staaten ein eigenes Turnier ins Leben rufen wollten, sollten wir ihnen das verbieten? Heute ist das nicht möglich: Und ohne solche Möglichkeiten werden die Vereine in den kleinen Ländern nicht mehr so wettbewerbsfähig sein können wie früher, denn heute basiert das gesamte System auf der Zahl der Abonnenten von Digital- und Fernsehplattformen. Und je grösser ein Land ist, desto mehr Möglichkeiten hat es. Auch dies scheint mir ein Verstoss gegen den Geist der Verträge und vielleicht auch gegen einige europäische Regeln zu sein. Genauso wie die bestehenden UEFA-Regeln für nationale Nachwuchsspieler gegen den EU-Grundsatz der Freizügigkeit verstossen und zu Diskriminierungen führen. Kurz gesagt, abgesehen von der Propaganda gibt es meiner Meinung nach viel zu tun, um das europäische Fussballsystem zu reformieren. Natürlich müssen wir das Urteil des EU-Gerichtshofs abwarten, oder besser gesagt die Urteile, denn es gibt mindestens drei Fälle, in denen die Entscheidungen der europäischen Richter sehr wichtig sein werden.
 
Ist die finanzielle Übermacht der Premier League gegenüber ihren europäischen Konkurrenten und die Investitionen souveräner Staaten von der arabischen Halbinsel in europäische Fussballvereine ein Grund zur Sorge?
 
Die finanzielle Übermacht der Premier League wird ohne Eingriffe und Reformen nur noch grösser werden. Zum Teil ist dies sicherlich auf den Erfolg dieser Liga zurückzuführen: Die Engländer haben ein sehr attraktives System entwickelt. Aber es ist auch ein System, das auf Fernsehrechten und sehr bedeutenden aussereuropäischen Investitionen beruht, von Russland bis zur arabischen Halbinsel. In diesem Zusammenhang haben wir zweifellos ein weiteres Problem, das mit direkten oder indirekten staatlichen Beihilfen zusammenhängt. Verschiedene Fonds, die für grosse Investitionen in englische und sogar europäische Vereine verwendet werden, sind staatlichen Ursprungs. In der EU kommen sie staatlichen Beihilfen gleich, die nur unter bestimmten Bedingungen genehmigt werden dürfen. Dies ist ein Aspekt, der ebenfalls berücksichtigt werden muss. Wie können wir die Nachhaltigkeit des Fussballs in den europäischen Ländern gewährleisten, wenn wir nicht für wirklich gleiche Wettbewerbsbedingungen sorgen, in diesem Fall in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit? Wir müssen Regeln für die finanzielle Nachhaltigkeit aufstellen, die auf den erwirtschafteten Einnahmen basieren - und nicht auf externen und in der Regel aussereuropäischen Beihilfen, die den Wettbewerb verzerren. Dies ist ein Problem, das bisher von der UEFA ignoriert wurde, und zwar auf widersprüchliche Weise, denn es betrifft auch die Regeln des finanziellen Fairplay, ein weiteres schmerzhaftes und undurchsichtiges Kapitel der Organisation, die eigentlich ein Verein nach Schweizer Privatrecht ist. Ohne Reformen hat der europäische Fussball eine sehr schwierige Zukunft vor sich. Ich verstehe, dass der Widerstand gegen Veränderungen in Nyon, wie auch anderswo, gross ist: aber ich glaube, dass er überwunden werden muss, auch in Nyon. Das System des europäischen Fussballs muss reformiert werden, ohne noch mehr Zeit zu verlieren.
 
Ceferin scheint die UEFA wie ein Familienvater zu führen, der mit absoluter Willkür bestraft und belohnt und die Gewaltentrennung innerhalb der Institution ignoriert. Viele Mitglieder des Exekutivkomitees haben undurchsichtige Interessen. Macht Ihnen die Führung des europäischen Fussballs Sorgen?
 
Ja, das beunruhigt mich sehr. Es ist Teil des Transparenzproblems: Es ist überhaupt nicht klar, ob und wie die UEFA mit tatsächlichen oder potenziellen Interessenkonflikten innerhalb ihrer Organisation umgeht. Und das ist ein grosses Problem. Ich glaube, dass die Fans, die Sportler, die Vereine und auch Europa mehr verdient haben. Was Ceferin betrifft, so hat er in seinen Interviews, in seiner öffentlichen Kommunikation, den Eindruck erweckt, persönliche Kämpfe zu führen, Rechnungen begleichen zu wollen, und ich denke, das war ein grosser Fehler. Selbst in den schwierigsten Passagen, selbst wenn es persönliche Enttäuschungen gibt, kann der Präsident einer wichtigen Organisation wie der UEFA niemals diesen Eindruck erwecken. Wir haben das Recht, von einem Präsidenten eine ganz andere Haltung zu erwarten. Ich hoffe wirklich, dass Ceferin dies erkennt und in seinem neuen Mandat ein neues Kapitel aufschlägt. Bislang hat er das nicht getan.
 
Eine kurze Meinung zur Super League. Haben Sie das neue A22-Projekt gelesen? Was halten Sie davon?
 
Es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen, wie Fussballvereine europäische Turniere organisieren wollen. Was uns als Mitglieder des Europäischen Parlaments interessieren sollte, ist, dass alles im Einklang mit den europäischen Grundsätzen und Regeln abläuft. Das neue Projekt der Super League gewährleistet Offenheit, Leistung und Solidarität, die für das europäische Sportmodell unerlässlich sind. Aber ich wiederhole: Es steht mir nicht zu, Präferenzen für dieses oder jenes Modell anzugeben. Was ich stattdessen völlig lächerlich finde, ist, die neue Super League wie den grossen bösen Wolf im Rotkäppchen-Märchen darzustellen. Also bitte, versuchen wir es doch mit etwas mehr Seriösität.